Bd. 5 Nr. 1 (2023): Sonderheft: Qualifizierung zur Aufgabenentwicklung für den inklusiven Unterricht in der Verbindung von Fach- und Entwicklungsorientierung

Die Auswahl und Konstruktion von Aufgaben sowie die Ausgestaltung ihres Einsatzes sind Kernfragen der didaktischen und pädagogischen Mikroebene des Lehrens und Lernens (Fend, 2009). Lehrkräfte nutzen, gestalten und adaptieren Aufgaben in vielfältigen Settings und mit diversen Zielsetzungen. Ihre Bearbeitung erfolgt etwa im Unterricht oder zuhause und kann als Ausgangspunkt für Lernprozesse oder ihrer Beobachtung und Bewertung dienen. Lehrkräfte sind gefordert, ihre Expertise in die Auswahl, Konstruktion und Anpassung von Aufgaben sowie in die Begleitung der Bearbeitung und deren Auswertung einzubringen. Für inklusiven Unterricht erscheint zentral, dass dabei Zugänge für alle Lernenden, Sensibilisierung für verbleibende Barrieren und das Verhältnis von Individualisierung und Ko-Konstruktion fokussiert wird. In der Qualifizierung von Lehrkräften ist die fachliche Orientierung im Sachbezug auf ein Unterrichtsfach dabei genauso zu berücksichtigen wie eine individuelle Entwicklungsorientierung die sich auch auf einer überfachlichen Ebene bewegt (Eckhart, 2010⁠; Heimlich & Kahlert, 2014). Damit sind Aspekte angesprochen, die in der Lehrer:innenbildung oftmals getrennt voneinander thematisiert werden – etwa in der Fachdidaktik und der Erziehungswissenschaft.

Eine Vernetzung von allgemeiner Didaktik, Fachdidaktik und Fachwissenschaft sowie z.T. in der Erziehungswissenschaft wird bereits umfassender diskutiert (Büchter, A., Leuders, T., 2005⁠; Meyer, 2015⁠; Roßa, 2013) und ebenso die Einbindung bislang vielfach im sonderpädagogischen Bereich verorteter grundlegender Unterstützung etwa auf wahrnehmungsbezogener, sprachlicher, sozialer oder emotionaler Ebene (Langner, 2017⁠; Terfloth & Bauersfeld, 2015). Letzteres verweist darauf, dass für den inklusiven Unterricht mit der systematischen Einbindung der Entwicklungsorientierung eine subjektorientierte, individualisierte Dimension hinzukommt, wie in entsprechenden inklusionsdidaktischen Konzeptionen betont wird (Eckhart, 2010⁠; Feuser, 1982⁠, 2011⁠; Heimlich & Kahlert, 2014⁠; Seitz, 2008). In diesem Zusammenhang ist fachlich-fachdidaktische Professionalisierung ebenso wie allgemein pädagogisch-didaktische und überfachliche Expertise in Verbindung mit Kenntnissen zu den Entwicklungsbereichen Lernentwicklung (Kognition), emotionale und soziale Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Entwicklung der Wahrnehmung sowie Entwicklung des sprachlichen und kommunikativen Handelns (KMK, 2021) notwendig. Die Umsetzung dieser Verbindungen stellen sich in den didaktischen Entscheidungen auf der Mikroebene des Unterrichts sowie den damit verbundenen Qualifizierungsbedarfen aktuell noch als ein Desiderat dar. Diese Zugänge bzw. Perspektiven müssen von der einzelnen Lehrkraft oder auch durch Austausch im multiprofessionellen Team verbunden werden. Nicht zuletzt wird im differenzierten Einsatz das Abwägen unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen verschiedener Aufgaben und Bearbeitungsphasen relevant. Dabei geht es sowohl um individuelle Anpassungen und eine passende Auswahl, als auch um die Frage, wie in einer Gruppe unterschiedliche Zugänge zu einer Aufgabe zusammengebracht werden können, um ein gemeinsames Lernen zu unterstützen.

Für die Entwicklung, Auswahl und Anpassung von Aufgaben sowie deren Einsatz im inklusiven Unterricht in der jeweils spezifischen Lerngruppe konstatieren wir somit die Bedeutung der Qualifizierung von Lehrkräften unter der Prämisse, fachlich-fachdidaktische und entwicklungsbezogene Expertise zu verbinden. Das vorliegende Sonderheft präsentiert zum skizzierten Desiderat thematische Beiträge auf unterschiedlichen Ebenen:

1. Entwicklung adäquater Aufgaben mit Fach- und Entwicklungsbezug

Michaela Kaiser fokussiert in ihrem theoretisch angelegten Beitrag die Aufgabenentwicklung für einen inklusiven Kunstunterricht und zeichnet entwicklungsorientierte Bildungsziele des Kunstunterrichts nach. Dabei zeigt sie, dass die Konstruktion entwicklungsorientierter Aufgaben im Kunstunterricht nicht allein als Reaktion auf Differenz und als Bearbeitung von Differenzverhältnissen, sondern auch als an der Erzeugung von Differenzen und damit als an der (Re-)Produktion von Normen und Hierarchisierungen aktiv beteiligt verstanden werden kann. Abschließend stellt sie Anfragen an eine dekonstruktive Lesart kunstunterrichtlicher Aufgaben.

René Schroeder, Katja Franzen und Anne Reh beleuchten den Unterricht der Primarstufe und gehen in ihrem Beitrag auf gute Lernaufgaben im Fach Sachunterricht und deren diagnostische Potentiale ein. Im Fokus des Beitrags steht die Konzeption und Entwicklung eines Analysetools, das Lehrkräfte bei der Beschreibung und Reflexion von fach- und entwicklungsbezogenen Lernprozessen und -aufgaben im Sachunterricht unterstützen soll und ihnen dadurch die Wahrnehmung von Barrieren und Potentialen möglicher Lernaufgaben erleichtert.

Daniela Ender, Lisa Paleczek, Martina Kalcher und Andreas Kelz stellen das in der Steiermark (Österreich) durchgeführte Projekt RegioDiff vor, das mit Lehrpersonen der 8. Schulstufe kooperative Lernmethoden den überfachlichen Kompetenzbereich der Kooperation im Rahmen einer Fortbildung beleuchtet. Dabei gehen sie auf der Basis von Fragebögen, Interviews und Unterrichtsbeobachtungen den Fragen nach, welche Elemente kooperativen Lernens von den Lehrpersonen in der Erprobung in ihren Klassen als besonders relevant erachtet wurden, in welcher Weise die Schüler:innen von den Lehrpersonen wahrgenommen wurden, was die Lehrpersonen als förderlich an der Fortbildung erlebten und welche Inhalte künftige Fortbildungen zu kooperativen Lernmethoden sinnvoll sein könnten.

2. Aufgaben im Fach- und Entwicklungsbezug unter Bezugnahme auf die Perspektive der Lernenden

Florian Schütte und Toni Simon fokussieren in ihrem Beitrag das freie Explorieren als methodische Brücke zwischen der Fach- und Entwicklungsorientierung bei naturwissenschaftsbezogenen Aufgaben im Sachunterricht der Primarstufe. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern das freie Explorieren eine geeignete Methode sein kann, um Aufgaben im inklusiven naturwissenschaftsbezogenen Sachunterricht einen Rahmen zu geben. Zentrale Ansprüche, die Lehrkräften zur Orientierung bei der Gestaltung inklusiver naturwissenschaftsbezogener Lernaufgaben für den Sachunterricht dienen können, werden identifiziert und Anforderungen an eine inklusionsorientierte Lehrkräftebildung im Bereich naturwissenschaftsbezogenen Sachunterrichts dargestellt.

David Rott und Marcus Kohnen widmen sich in ihren Ausführungen dem überfachlichen Bereich des Kritischen Denkens und untersuchen diesen unter Einsatz von Dilemmata als ein spezifisches Aufgabenformat. Möglichkeiten des Lehrens und Lernens kritischen Denkens in der Sekundarstufe werden zur Arbeit mit einem Dilemma dargelegt, in dem Umwelt- und Tierschutzfragen gegen wirtschaftliche und soziale Interessen gestellt werden. Die Basis bilden Fragebogendaten der Schüler:innen, ergänzt durch Rekonstruktion audiographischer Daten der Bearbeitung des Dilemmas in einer Gruppenarbeitssituation.

3. Qualifizierung zur Aufgabengestaltung mit Fach- und Entwicklungsbezug in der 1.-3. Phase der Lehrer:innenbildung

Katharina Kindermann und Sanna Pohlmann-Rother befassen sich in ihrem Beitrag mit dem inklusiven Deutschunterricht in der Grundschule und beschreiben die Qualifizierung für den Einsatz digitaler Bilderbücher. Ziel ist deren Nutzung als ein differenzierendes Aufgabenformat mit einem Fokus auf Leseförderung nach dem erweiterten Lesebegriff. Ein an der Universität Würzburg stattfindendes medienpädagogisches und inklusionsbezogenes Seminarangebot ermöglicht hierfür Studierenden der Lehrämter Grundschule und Sonderpädagogik die Erstellung digitaler Bilderbücher für den inklusiven Anfangsunterricht unter besonderer Berücksichtigung von Kindern mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt geistige Entwicklung. Die Lernfortschritte der Studierenden werden durch die qualitative Inhaltsanalyse ihrer Lerntagebücher ermittelt.

Laisa M. Quittkat, Kathrin Hormann, Claudia Schomaker und Linda Hartmann erläutern in ihrem Beitrag zum inklusiven Sachunterricht das Aufgabenformat der Konzeptdialoge zur Entwicklung gemeinsamer fachlich tragfähiger Erklärungen in einer heterogenen Lerngruppe zu einem naturwissenschaftlich-technischen Phänomen. Die Konzeptdialoge wurden im zugrunde liegenden Projekt zugleich in ihrem Potential als Erhebungsmethode zur Erfassung von Vorstellungen und Präkonzepten von Schüler:innen vorgestellt. Die Autorinnen diskutieren in Anlehnung an die Reflexion Masterstudierender den Einsatz der Aufgabenformate sowie der Erhebungsmethode in der ersten Phase der Lehrer:innenbildung.

Jennifer Bertram, Nadine da Costa Silva und Katrin Rolka stellen in ihrem Beitrag Maßnahmen zur Berücksichtigung von Heterogenität vor, die Lehrkräfte in der Adaption von Aufgaben für den Einsatz im inklusiven Mathematikunterricht nutzen können. Im Rahmen einer digitalen Fortbildung für Lehrkräfte der Sekundarstufe I werden die theoretischen wie auch empirischen Fundierungen der Maßnahmen als auch ihr vielseitiger Einsatz exemplarisch anhand einer Geometrieaufgabe erläutert. An diesem Beispiel werden die Fach- und Entwicklungsorientierung in den Bereichen Lernentwicklung sowie Entwicklung des sprachlichen und kommunikativen Handelns systematisch verknüpft.

Die Beiträge dieses Sonderheftes mit ihrer Vielzahl an fachlichen sowie überfachlichen Bezügen verdeutlichen, auf welchen Ebenen Fragen an Aufgaben im inklusiven Fachunterricht unter Einbezug überfachlicher Aspekte verhandelt und bearbeitet werden und liefern bedeutsame Einsichten zur Verknüpfung fach(didaktisch)orientierter und entwicklungsorientierter Perspektiven. Grundlegende Erarbeitungen zur Aufgabenqualität sind dabei eng verwoben mit den Fragen und Möglichkeiten der Qualifizierung von (angehenden) Lehrkräften zur Entwicklung entsprechender Formate.

Die Beiträge zeigen zudem auf, dass für die grundlegende Ebene der Aufgabenentwicklung und Aufgabenqualität für den inklusiven Kontext noch Entwicklungsarbeit zu leisten ist, insbesondere wenn die Notwendigkeit besteht, im engeren Sinne die einleitend benannten Entwicklungsbereiche zu fokussieren und zu vertiefen. Für die Qualitätsentwicklung in der Lehrkräftebildung bedarf es daher in diesem Sinne insbesondere der weiteren entsprechenden Entwicklung und/oder Anpassung hochwertiger Aufgaben für den inklusiven Unterricht. Die Erkenntnisse aus der Entwicklungsarbeit und den empirischen Erprobungen können dann wiederum in die Identifizierung und Umsetzung entsprechender Qualifizierungsangebote zur Aufgabenentwicklung und -adaption für (angehende) Lehrkräfte einfließen.

Im allgemeinen Teil der Ausgabe beschäftigen sich Laura Di Venanzio und Kevin Niehaus mit der Mehrsprachigkeit und Sprachbildung in inklusiven Bildungskontexten und präsentieren anhand einer Pilotstudie, die Untersuchung des vorherrschenden Verständnisses von Bildungssprache bei angehenden und bereits ausgebildeten Grundschullehrkräften sowie die ihr beigemessene Bedeutung. Sie stellen in ihrem Beitrag Ergebnisse vor, die Impulse erster möglicher konzeptioneller Erweiterung sprachbildlicher Arbeit aufzeigen, sowie die unzureichende kritische Reflexion des Konstrukts Bildungssprache, insbesondere im Hinblick auf soziale und gesellschaftliche Teilhabeprozesse darstellt. 

Wir danken den Autor:innen für die Einblicke in ihre Arbeit und Ergebnisse und wünschen viel Freude und Inspiration bei der Lektüre!

Bettina Streese & Natascha Korff (Gastherausgeberinnen) & im Namen der Redaktion Sophia Laux

 

Literatur

Büchter, A., Leuders, T. (2005). Mathematikaufgaben selbst entwickeln. Lernen fördern - Leistungen überprüfen. Berlin: Cornelsen Scriptor Verlag.

Eckhart, M. (2010). Umgang mit Heterogenität - Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Didaktik. In H.-U. Grunder & A. Gut (Hrsg.), Zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Gesellschaft. 2. Chancen und Problemlagen (Bd. 2, S. 133–150). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

Fend, H. (2009). Neue Theorien der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen (2. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Feuser, G. (1982). Integration = die gemeinsame Tätigkeit (Spielen/Lernen/Arbeit) am gemeinsamen Gegenstand/Produkt in Kooperation von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Behindertenpädagogik, 21(2), 85–105.

Feuser, G. (2011). Entwicklungslogische Didaktik. In A. Kaiser, D. Schmetz, P. Wachtel & B. Werner (Hrsg.), Didaktik und Unterricht (Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik, Bd. 4, S. 86–100). Stuttgart: Kohlhammer.

Heimlich, U. & Kahlert, J. (2014). Inklusion in Schule und Unterricht. Wege zur Bildung für alle (2. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

Kultusministerkonferenz. (2021). Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung. Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_03_18-Empfehlungen-Schwerpunkt-Geistige-Entwicklung.pdf

Langner, A. (Hrsg.). (2017). Inklusion im Dialog: Fachdidaktik - Erziehungswissenschaft - Sonderpädagogik (Perspektiven sonderpädagogischer Forschung). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Meyer, H. (2015). Unterrichtsentwicklung. Praxisbuch mit Materialien auf CD-ROM (Praxisbuch Meyer). Berlin: Cornelsen Scriptor Verlag.

Roßa, A. (2013). Zum Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik in der Lehrerbildung. Einschätzungen von Lehramtsstudierenden zur Fähigkeitsentwicklung in universitären Praxisphasen. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Seitz, S. (2008). Leitlinien didaktischen Handelns. Zeitschrift für Heilpädagogik, 59(6), 226–233.

Terfloth, K. & Bauersfeld, S. (2015). Schüler mit geistiger Behinderung unterrichten. Didaktik für Förder- und Regelschule (2. Auflage). München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag.

Veröffentlicht: 2023-02-09

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